Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) by Frances Allen

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) by Frances Allen

Autor:Frances, Allen [Frances, Allen]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832187118
Herausgeber: DUMONT Buchverlag
veröffentlicht: 2013-04-02T22:00:00+00:00


Die soziale Phobie macht aus Schüchternheit eine Krankheit

Auch die soziale Phobie (soziale Angststörung) ist eine Modekrankheit, die aus banaler Schüchternheit die dritthäufigste psychische Störung gemacht hat; ihre Häufigkeit schwankt, je nachdem, wie großzügig sie diagnostiziert wird, zwischen 7 und absurden 13 Prozent. Allein in den USA kämen mindestens fünfzehn Millionen Erwachsene für die Diagnose Sozialphobie infrage und sind somit eine erstklassige Zielgruppe für die Pharmawerbung. Schüchternheit ist eine verbreitete, vollkommen normale menschliche Eigenschaft, die dem Vorsichtigen einen enormen Überlebensvorteil gegenüber dem Draufgänger bietet. Gewiss nützt es dem Stamm, wenn er zu seinen Mitgliedern ein paar Forscher und Abenteurer zählt, die sich unerschrocken auf den Weg machen, wenn das Wasserloch ausgetrocknet ist. Und wenn den Nachbarn die Streitlust packt, ist es angenehm, auf ein paar aggressive Typen zählen zu können. Aber für das Alltagsleben unter stabilen Bedingungen dürfte es die klügere Strategie gewesen sein, dem Neuen und Unerprobten tendenziell lieber aus dem Weg zu gehen. Andernfalls hätte das genetische Erbe, das genau diese Strategie begünstigt, nicht derart weite Verbreitung gefunden.

Natürlich gibt es Menschen, die von ihren sozialen Ängsten handlungsunfähig gemacht werden und tatsächlich so beeinträchtigt sind, dass sie die Kriterien für eine psychische Störung erfüllen. Aber es sind wenige, ein viel zu kleiner Markt, um bei der Pharmaindustrie je auf Interesse zu stoßen. Die aber hatte, wie so oft, die brillante Idee, über diese Wenigen hinauszublicken und sich eine Welt vorzustellen, in der sich schon eine etwas ausgeprägtere Schüchternheit auf magische Weise in eine psychische Erkrankung verwandeln lässt, die medikamentös behandelt werden muss.

Die Tatsache, dass Schüchternheit statistisch normal ist und wir keine klare Grenze zwischen normaler Zurückhaltung und pathologischer Angst ziehen können, bescherte den Pharmaunternehmen ein fettes Ziel. Sie rüsteten zum Generalangriff und redeten allen Schüchternen ein, sie seien krank und ließen das Leben an sich vorbeiziehen, wenn sie sich keiner Kur unterzögen. Dazu kamen bequemerweise ein paar Personen des öffentlichen Lebens, die sich als qualvoll schüchtern empfanden und gern bereit waren, lauthals zu verkünden, wie befreit sie nach einer Diagnose und der entsprechenden Therapie gewesen seien. Auch Ärzte wurden überrannt und weichgeklopft, und wenn sich ein angehender »Patient« die Werbebotschaft »Fragen Sie Ihren Arzt« zu Herzen nahm und fragte, zückten sie ihren Rezeptblock und verschrieben Paroxetin (»Paxil« von GlaxoSmithKline). So dauerte es nicht lang, bis die soziale Angststörung aus ihrer erniedrigten Lage als Fußnote der Psychiatrie zu einem erblühenden Star unter den Diagnosen aufstieg und heute eine der am weitesten verbreiteten und am häufigsten behandelten psychischen Störungen ist.27

Die soziale Angststörung besitzt noch eine zweite Eigenschaft, die sie zum Traum aller Marketingexperten macht. Weil die meisten Menschen, die als sozialphobisch diagnostiziert werden, nicht im eigentlichen Sinn krank sind, ist es sehr leicht, sie wieder »gesund« zu machen. Die Betroffenen bilden eine Population mit hoch ausgeprägter Placeboreaktion, was sie für die Pharmaindustrie erfreulich attraktiv macht. Sobald es jemandem (der nicht besonders krank ist) dank der Placebowirkung eines Arzneimittels (das nicht besonders notwendig ist) wieder besser geht, hält er höchstwahrscheinlich wie an einem Talisman daran fest, um nur ja kein Unglück heraufzubeschwören: So



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